Beginn der Fürsorge für Menschen mit Behinderung

1886 begann im Oberlinhaus die Arbeit mit Menschen, die eine körperliche Behinderung hatten. Als erster wurde der elfjährige Ludwig Gerhard im Oberlinhaus aufgenommen. Er war vollständig gelähmt und konnte ohne Hilfe nicht einmal Nahrung zu sich nehmen. Dank ausdauernder medizinischer und physiotherapeutischer Betreuung lernte Ludwig nach wenigen Jahren an Krücken zu laufen und bedurfte beim Essen und Ankleiden keiner Hilfe mehr. Der Betreuungsbedarf für Menschen, die körperlich versehrt waren, stieg ständig und so beschloss der Verein Oberlinhaus ein „Krüppelheim“ zu bauen. 1894 wurde es als erstes „Deutsches Vollkrüppelheim“ eröffnet. Ergänzung fand das Heim 1899 durch den Anbau eines „Krüppelschulhauses“.

Eine ganz neue Aufgabe stellte sich dem Verein Oberlinhaus, als im Januar 1887 das taubblinde Mädchen Herta Schulz aufgenommen wurde. Bisher gab es in Deutschland keine Einrichtung für taubblinde Menschen. Der Vorstand nahm die Herausforderung an und konnte im Jahre 1891 den Taubstummenoberlehrer G. Riemann aus Berlin als Mitarbeiter für die Ausbildung von Mitarbeiterinnen gewinnen. 1906 wurde vom Oberlinhaus das erste „Taubstummblindenheim“ Deutschlands für durchschnittlich 40 Bewohner eröffnet. Um dem weiteren Bedarf gerecht zu werden, entstand an seiner Stelle ein Neubau, der im Jahre 1912 eingeweiht wurde.

Aus der zunehmenden Fürsorge für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, erwuchs die Notwendigkeit nach einer behindertengerechten beruflichen Ausbildung. Versuche, die Jugendlichen bei umliegenden Firmen und Handwerksbetrieben unterzubringen, erwiesen sich als unpraktisch. Mit der finanziellen Unterstützung durch Einzelpersonen konnten die Mittel zum Bau eines neuen Gebäudes gesammelt werden. Am 26. Oktober 1901 wurde das Handwerkerhaus für die berufliche Rehabilitation eröffnet. Darin waren Wohnräume und Schlafsäle sowie Werkstätten für Schumacher, Schneider, Korbmacher, Bürstenmacher, Stuhlflechter sowie eine orthopädisch-mechanische Werkstatt und eine Bandagenwerkstatt. Hinzu kamen später noch eine elektrisch betriebene Drechslerei, eine Schlosserei und eine Tischlerei. Neben der praktischen Unterweisung wurden die Lehrlinge auch in theoretischem Wissen von Fachkräften ausgebildet.

Noch vor der Jahrhundertwende erarbeitete der damalige Hausvorstand (Oberin Thusnelda von Saldern und Pastor Theodor Hoppe) die Konzeption einer ganzheitlichen Rehabilitation. Bereits 1900 orientierten sich somit die medizinischen, pädagogischen, beruflichen und sozialen Aufgaben auf einer geistlichen Basis ganzheitlich an den Bedürfnissen des Einzelnen. 1900 wurde der Verein Oberlinhaus für das Konzept der komplexen Rehabilitation – ein zu jener Zeit innovatives und richtungsweisendes Konzept – auf der Pariser Weltausstellung mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. 1910 schloss sich der Verein Oberlinhaus der „Deutschen Vereinigung für Krüppelpflege e.V.“ an. Innerhalb dieser Vereinigung hat sich das Oberlinhaus maßgeblich an der Entstehung des ersten „Krüppelfürsorgegesetzes“ beteiligt, welches 1920 erlassen wurden. Von nun an war die „Krüppelpflege“ keine Gnadenleistung mehr, sondern eine Pflichtleistung der Gesellschaft und des Staates.